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Lebensdraht – Wie ein winziges Röhrchen mein Leben verändert

Es ist Sonntag. Tag 1 nach meinem Herzinfarkt.

Am Vormittag geht es ins Herzkatheter-Labor.

Die Vorstellung kam mir immer seltsam bizarr vor, dass einem ein Draht (!) ins Herz geschoben wird. Bei diesem Wort fallen mir sofort die Rollen zäh flexibler Metallfäden ein, die früher bei meinem Vater in der Werkstatt hingen. Und dann noch bei örtlicher Betäubung! Also wenn schon, dann will ich davon nichts mitkriegen.


INHALTSVERZEICHNIS

Herzkatheter – Engstellen auf der Spur
Verdrahtung
Bahn frei
Zeitenwende


Ein so bedeutender Eingriff an diesem zentralen und auch mystisch so aufgeladenen Teil meiner selbst kann ja nur von Heerscharen spezialisierten medizinischen Personals durchgeführt werden. Denke ich.

Es sollte anders kommen.

Eigentlich war es wie beim Zahnarzt. Ein Operateur und eine Krankenschwester, die hin und wieder etwas anreichte.

Die Schwester half mir aus meinem Bett auf den OP—Tisch umzusteigen. Ich bekam zwei große Pflaster auf die Brust und auf das Schulterblatt geklebt. Gedacht für den Elektroschock bei einer eventuellen Reanimation.

Was für Aussichten!

„Das ist ein Eingriff am Herzen!“, mahnte sie. Der Arzt stellte sich kurz vor und ich nickte heftig, als mir ein Beruhigungsmittel angeboten wird. Ich merke noch den Einstich der örtlichen Betäubung am Handgelenk und das war’s.

Vom gesamten Eingriff, der Herzkatheter-Untersuchung, spüre ich fast nichts. Aber ich kann alles live auf dem Monitor verfolgen, der direkt über mir hängt.

Herzkatheter – Engstellen auf der Spur

Bei der Herzkatheter-Untersuchung werden mit Hilfe eines Kontrastmittels die Herzkranzgefäße sichtbar gemacht, so dass der Arzt diese auf dem Röntgenbild sehen kann. Erzeugt wird es durch ein Röntgengerät, das während des Eingriffs immer wieder meine Brust umkreist.

„Ich habe ihr Problem gefunden!“, frohlockt der Arzt. „Sie haben zwei Verengungen im vorderen Herzkranzgefäß.“ Mein Frohlocken hält sich in Grenzen.

Meine Herzerkrankung wird allgemein als Verkalkung der Gefäße bezeichnet. Dabei entstehen in den Arterien entzündete Stellen, die aufbrechen und an denen sich Plaques bilden. Plaques wachsen allmählich und können zu dem gefürchteten Verschluss des Gefäßes führen.

Die Folge kann ein Absterben von Herzgewebe sein, das zu Einschränkungen der Herzfunktion wie Rhythmusstörungen oder Vorhofflimmern führen kann.

Ich habe Glück gehabt, höre ich. Es gab keinen kompletten Verschluss. Allerdings war eine Stelle bereits zu 90% geschlossen. Ein Arzt wird später sagen, es sei fünf vor zwölf gewesen.

Das Mittel der Wahl bei dieser Konstellation ist die sogenannte Ballondilatation, um die Stelle wieder zu öffnen, und die Implantation eines Stents um dies zu stabilisieren.

Verdrahtung

Dabei wird ein dünner Kunststoffschlauch, der Herzkatheter, bis zur Engstelle geschoben, durch den der Behandelnde ein medizinisches Instrument führt, an dessen Ende ein zusammengefalteter Ballon sitzt. Wenn die Engstelle erreicht ist, wird der Ballon unter hohem Druck (satte 10 bar; ein Autoreifen hat 2) aufgeblasen und der Plaque, der die Stelle verengt, wieder in die Wand der Arterie zurückgedrückt.

Zur Stabilisierung wird danach ein Stent an dieser Stelle eingesetzt. Das ist eine Art Röhrchen aus einem Metallgeflecht, das mit Medikamenten überzogen ist, damit sich die Stelle nicht wieder zusetzt. Auch dieses Implantat wird mit einem Ballon an diese Stelle gedrückt und wächst allmählich ein. D.h. es wird von einem Häutchen wie von einer Tapete überzogen.

„Jetzt drückt es gleich wieder wie gestern“, kündigt der Arzt an.

Denn beim Aufblasen des Ballons, um die verengte Arterie wieder zu erweitern, wird das Gefäß kurz verschlossen. Es ist das einzige, was ich bei dem Eingriff spüre. Derselbe unangenehme Schmerz in der Brust und im Kieferbereich wie am Vortag. „Aha“, denke ich, „das war es also.“

Dieses Gefühl solle ich mir merken, rät der Kardiologe. Wenn es sich noch einmal bemerkbar machen würde, müsste ich sofort den Notarzt verständigen.

Bahn frei

Die Prozedur zieht sich, weil die Beinahe—Verschlüsse – Stenosen – an Abzweigungen anderer Arterien liegen. Bifurkationen nennt der Fachmann diese Verzweigungen. Mein Arzt ist schließlich hochzufrieden. „Komm mal gucken!“, fordert er seine Assistentin auf.

„Alles wieder perfekt, man sieht keinen Unterschied mehr.“ Er zeigt mir das Ergebnis mit zwei Röntgenbildern, Vorher — Nachher sozusagen.

Auf dem ersten Bild sehe ich zwei Dellen in meinem Herzkranzgefäß. Auf dem zweiten Bild sind die Dellen verschwunden und die Arterie hat überall einen gleichmäßigen Durchmesser. Gute Arbeit, denke ich.

Zeitenwende

Nach ca. 90 Minuten habe ich es überstanden und werde zur Beobachtung in eine Nische geschoben. Der Arzt überreicht mir meinen Stent—Ausweis, den ich ab sofort immer bei mir haben sollte.

Er eröffnet mir, dass ich ab heute zwei blutverdünnende Mittel nehmen muss. Das eine für ein Jahr, das andere bis ans Ende meiner Tage.

Ich bin frustriert und den Tränen nah. Gestern um diese Zeit hielt ich mich noch für kerngesund. Und war stolz darauf, nicht regelmäßig Medikamente nehmen zu müssen wie mein Vater. Als er noch deutlich jünger war, als ich es jetzt bin, gehörte bereits ein üppiger Tablettencocktail zu seinem täglichen Ritual.

Jetzt war meine Herzerkrankung amtlich und ich auf Medikamente angewiesen.


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